Tegel 1787
Und ich sollte je aufhören können, Sie zu lieben, Sie je nur weniger innig, weniger herzlich lieben können als jetzt? Nein, Henriette, halten Sie mich jeder Schwachheit, jedes Fehltritts fähig, nur keiner Untreue, keiner Unbeständigkeit, ich bitte Sie darum. Wenn Sie wüssten, wie Sie, und nur Sie allein meine ganze Seele beschäftigen, wie ich nur dann recht froh, recht zufrieden bin, wenn ich bei Ihnen sein oder doch recht ungestört an Sie denken kann, wie meine Aussicht in eine glücklichere Zukunft sich nur darauf gründet, dass Sie, meine Teure, fortfahren, mir so gut zu sein, als ich oft glaube, dass Sie mir jetzt sind; oh, dann würden Sie nicht besorgen und wenn es denn eine Besorgnis für Sie ist – , dass ich je aufhören könnte, das für Sie zu empfinden, was ich jetzt empfinde. Wie lange schon suchte ich, sehnte ich mich nach einer Freundin, der ich mein ganzes Herz ausschütten, deren Vertrauen ich verdienen, die ich recht, recht innig lieben und dadurch glücklich sein könnte. Diese Freundin habe ich jetzt gefunden, teuerste, innigst geliebte Henriette – denn Sie haben mich ja Ihrer Freundschaft gewürdigt, erlauben mir ja, Ihnen jede Empfindung meines Herzens zu entdecken – und ich sollte jetzt dieses Glück nicht zu schätzen wissen, sollte es nicht genießen, nicht so lange genießen wollen, als Sie mir es nur zu genießen verstatten? Ist denn auch das, was ich für Sie empfinde, von der Art, dass es so leicht wieder erlischt, so leicht von Gegenstand zu Gegenstand flattert? Oh, Henriette, klagen Sie die Freundschaft, die reinste, innigste, herzlichste Freundschaft nicht so unrecht an! Ich fühle zu sehr, dass meine ganze Ruhe, meine ganze Zufriedenheit nur von Ihnen abhängt, dass Ihre Freundschaft mir unentbehrlich geworden ist, als dass ich nicht alles tun sollte, sie mir zu erhalten …

Berlin 1787
Wir herzlich leid hat es mir getan, teuerste Freundin, dass ich gestern nicht habe zu Ihnen kommen können, aber ich konnte wirklich nicht. Und doch bin ich den ganzen Nachmittag bei Ihnen gewesen, denn ich habe immer nur an Sie gedacht. Allein freilich unterscheidet sich dadurch dieser Nachmittag um nichts von allen übrigen Tagen. Sie schrieben mir neulich, Sie wollten gern einer Geliebten, aber keiner Freundin nachstehen. Wie, liebe Henriette, wie sollten Sie in meinem Herzen irgendeiner andern nachstehen, Sie mögen sie nur eine Geliebte oder eine Freundin nennen! Ich sagte es Ihnen schon letzthin, und es ist schon wahr, es ist mir unmöglich jetzt recht eigentlich zu lieben; Sie, Sie allein erfüllen zu sehr meine ganze Seele. Und wenn ich auch einmal für ein Mädchen gut, recht gut wäre, so würde ich doch für diese nie, nie das empfinden, was ich jetzt für Sie empfinde. Ich kann es mir sogar vorstellen, wie meine Gesinnungen gegen Sie und gegen jene verschieden sein würden. Gegen sie würden Sie immer wärmer, inniger, vertraulicher, aber zugleich auch mit größerer Besorgnis, Sie zu verlieren, verbunden sein. Jene würde ich auch treu und herzlich lieben, aber doch nie mit der Wärme, mit der Innigkeit, ich würde ihr nie so offenherzig, wie Ihnen jede, auch die geheimste Empfindung meines Herzens anvertrauen, ich würde nicht so ängstlich sein, ihre Liebe oder ihre Freundschaft wieder zu verlieren. Wenn Sie je aufhörten, mir gut zu sein, so würde ich unglücklich sein, und, wie sehr mich jene auch liebte, so würde mich ihre Liebe doch nie trösten können, änderte aber jene ihre Gesinnung gegen mich, so würde es mich dann recht eigentlich kränken, wenn ich daran schuld wäre. Sie, liebste Freundin, würden gleich erfahren, wenn ich ihr gut wäre; aber wie müsste jene sein und wie lange müsste ich sie kennen, wenn ich ihr sagen sollte, wie gut ich Ihnen wäre. Glauben Sie auch nicht, dass ich mich nach so einer Verbindung eben sehnte. Bin ich nicht schon durch Ihre Freundschaft so glücklich, so viel glücklicher als ich es verdiene? Und würde ich denn durch jene Verbindung glücklicher werden, ich könnte ja doch einer andern nie so gut sein als Ihnen, die Freundschaft, selbst die Liebe einer andern würde mich ja doch nicht so innig glücklich machen. Als mich Ihre Freundschaft macht, als sie mich machen würde, wenn ich völlig gewiss wäre, sie ganz zu besitzen. Und gesetzt, es läge irgendeiner daran, dass ich ihr gut wäre; würde sie nicht dennoch gern Ihnen nachstehen wollen, oh. Wenn sie Sie kennte, und wollte sie das nicht, so könnte auch ich sie nicht lieben. Welche Rechte, wenn ich auch nur das sagen wollte, besitzen Sie nicht schon auf meine Dankbarkeit und auf mein Vertrauen! Sagen Sie selbst, was würden Sie von mir denken, wenn ich unbescheiden genug sein sollte, von Ihnen zu fordern, dass Sie mich irgendeinem Ihrer Eltern, Freunde vorziehen sollten, wenn ich diesen nicht gern nachstehen wollte, da sie doch in längerer Zeit mehr Gelegenheit gehabt haben, Ihnen zu zeigen, dass sie Ihrer Freundschaft nicht unwert sind. Glauben Sie also nicht, dass ich je eine andere Ihnen vorziehe, sie je mehr lieben könnte als Sie. Sie täten gewiss meinem Herzen sehr Unrecht, liebe Henriette denn wahrlich, wenn ein gewisser Grad von Freundschaft auf ewig die Liebe aus meinem Herzen verdrängt. Möchten nur auch Sie mir recht gut sein beste Henriette; ach, oft glaube ich es, Sie sagten mir es ja manchmal. Aber Sie kennen so manchen bessern, vorzüglicheren Menschen, als ich bin, Sie können noch täglich manchen kennen lernen, ich habe so gar nichts, wodurch ich Ihre Freundschaft verdienen könnte, wie ist es wohl möglich, dass Sie mir gut wären, oder anders gut wären, als vielleicht nur aus Mitleid, weil Sie sehen, dass ich sonst so unglücklich sein würde? So denke ich oft bei mir selbst, liebe Henriette, und wenn ich so denke, dann werde ich immer so traurig, dann weine ich so manche Träne im Stillen. Aber mag mich auch immerhin jeder andere in jeder Eigenschaft übertreffen, so gibt es doch gewiss niemanden auf der Welt, der Sie so innig, so herzlich liebt als ich, niemanden, der so gern wie ich alles tun, alles hingeben möchte, auch nur, was mir noch einige Hoffnung gibt, dass Sie vielleicht wissen, dass Sie es mir vielleicht glauben, wenn ich es Ihnen sage, und dass es Sie vielleicht doch etwas freut. Ich habe Ihnen wieder recht offenherzig geschrieben. Sie sagten mir neulich, es freute Sie, mein ganzes Her vor Ihnen offen liegen zu sehen: Oh, wenn es das ist, so sehen Sie es gewiss heute so ganz, wie es ist. Ich brauchte doch nicht mehr deshalb um Verzeihung zu bitten? Ich glaube kaum, dass ich Ihnen Dienstag werden diesen Brief geben können, was wird das wieder für ein Dienstag werden. Wenn Sie sich indes nur da, wo Sie sind, amüsieren, dann opfere ich Ihnen gern den Abend auf, wie groß auch das Opfer ist. Sehe ich Sie Dienstag nicht, so schreibe ich wohl bis Freitag noch mehr. Leben Sie recht wohl, liebe Henriette, und denken sie manchmal an den armen…

Wilhelm von Humboldt an Henriette Herz